der wahrhaftige körper.

by truebenjamin

ein kennzeichen unserer zeit ist, dass wir glauben, dass körper wahrheit vermitteln. wenn wir einen körper sehen, dann “wissen” wir, welchem geschlecht der mensch angehört, ob er dick oder dünn, alt oder jung, arm oder reich und so weiter ist. die moderne medizin schaut heute nicht nur auf den körper sondern sogar in ihn hinein und behauptet, vermittels ihrer objektiven erkenntnisse, krankheiten sehen zu können. diese idee wiederum behauptet, schon immer wahr gewesen zu sein. gerade in der medizin ist das durchaus ein spannender punkt: lange galt die heilkunst als etwas, das mit dem gefühl der menschen für sich selber zu tun hat. ärzte im 16. und 17. jahrhundert berührten patienten nicht sondern hörten ihnen zu und versuchten das, was ihnen gesagt wurde, in medizinisches wissen zu übersetzen. (es geht nicht darum zu sagen, dass das nun unbedingt besser war. aber darum, dass nicht alles, was heute als wahr gilt, mit einer eigenen geschichte zu versehen – und so ein anderes verständnis zu bekommen).

so weit. nun hört die wahrheit aber hier nicht auf. denn: wenn wir jemanden sehen und erkennen, dass er einem geschlecht angehörig zu sein scheint, dass er klein, groß, alt, jung etc. ist, dann verbinden wir diese erkenntnisse mit zuschreibungen. bei geschlecht ist das sehr klar, aber es gilt auch für vieles anderes: heute sind muskulös-schlanke körper attraktiv. ihren trägern wird disziplin, aktivität, sportlichkeit, attraktivität und eine gute selbstsorge unterstellt. und entsprechend wird denen, die nicht diesem bild entsprechen, das gegenteil zugeschrieben. das heißt: im schlimmsten fall “wissen” wir schon sehr viel über einen anderen menschen, obwohl wir noch kein wort mit ihm gesprochen haben. und genauso wie disziplin im medium körper aufscheint, so sind es angeblich auch zusammenhänge wie sexuelle orientierung, begehren und so fort.

paradox daran ist, dass wir dadurch alle aufgerufen sind, an unserem körper zu arbeiten. ihn zu formen, ihm die richtigen umfänge, ausmaße und so weiter zu verschaffen. gleichzeitig muss diese arbeit aber unsichtbar sein, niemand soll sehen, welche mühe wir aufbringen, um unseren körper zu optimieren. denn auch natürlichkeit ist ein sehr wichtiger punkt. allerdings bedeutet sie in diesem zusammenhang eben nicht, dem körper seinen raum und lauf zu lassen sondern: ihm dem angeblichen ideal des natürlichen körpers immer näher zu bringen. so sind in gestutzten schamhaaren wenig spuren von natürlichkeit zu entdecken, aber genau das wird als eine der vielen ausformungen von “natürlich” verkauft. es ist nahezu überflüssig zu erwähnen, dass auch diese aktivitäten alle eine geschichte haben, sich verändert haben. in zeiten wirtschaftlicher not waren dicke körper viel attraktiver als dünne. heute ist es umgekehrt der muskulös-sehnige körper ist ausdruck von verzicht und harter arbeit an sich selbst (deren bedeutung zu verfolgen sicherlich ein weiterer spannender aspekt wäre.).

problematisch erscheint mir an dieser stelle, dass sich diese anforderungen und prozesse zu einer art fetisch verwandeln. damit meine ich, dass attraktivität zunehmend nur noch über körperliche attribute ausgehandelt wird. oder anders: es erscheint mir so, als ob viele menschen sich nur einen bestimmten, genormten körper vorstellen können, um sexuelle lust an und mit ihm zu entwickeln. damit wäre eine grobe definition eines fetisches gegeben: dass nämlich sexuelle lust und befriedigung nur durch bestimmte artefakte, also kulturell bedeutsame dinge, möglich wird. und das verändert den blick. nicht zwingenderweise den von allen, aber doch von vielen.

vor einiger zeit war ich zusammen mit einem bekannten im sportstudio. also da, wo man alles dafür tut, um besser auszusehen etc. besagter bekannter ist körperlich nahezu ideal. sichtbar quasi kein körperfett, ansehnliche muskeln. an den richtigen stellen richtig rasiert. und so fort. er selber findet, dass er dringend unglaublich viel tun müsse, um endlich richtig gut auszusehen. und dass er im notfall dafür auch operationen machen lassen würde. und dabei sprechen wir von eingriffen, die optischer natur wären. mir war auch lange nicht klar, dass dieser bekannte natürlich mit diesem blick durch die welt geht und andere menschen einordnet. bis zu dem moment wo er mir sagte, dass ich schon ganz okay aussehen würde, aber der bereich meines bauches benötige ganz dringend viel harter arbeit. neben der zunächst einsetzenden erschütterung über diese ansage habe ich ein immer größer werdendes unbehagen gespürt. denn: mir ist klar geworden, dass er einen blick auf die menschen hat, den ich vielen leuten inzwischen zuschreibe (auch wenn ich es gern anders hätte), nämlich dass nur eine ganz bestimmte optik überhaupt die eintrittskarte für den marktplatz der sexuellen, romantischen und erotischen begegnungen ist.

ich will nicht sagen, dass mein bauch und ich gute freunde sind. ich finde, er könnte manchmal ein bisschen zurückhaltender sein. aber letztlich werde ich ihn dauerhaft nicht ändern können. aber ich merke, dass ich gern meinen blick ändern möchte. und den vieler anderer leute auch. denn in und hinter einem körper sind ganz andere qualitäten zu finden, die einen menschen viel wichtiger machen können, als es aktuell sichtbare bauchmuskeln können. das problem scheint zu sein: die muskeln kann man sehen. für den menschen müsste man sich einlassen. reden. sich kennenlernen….